Von gescheiterten Annäherungsversuchen und hilfreichen Antworten - Interview mit Anjuly
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Von gescheiterten Annäherungsversuchen und hilfreichen Antworten - Interview mit Anjuly

Von gescheiterten Annäherungsversuchen und hilfreichen Antworten - Interview mit Anjuly

Wie gehst du mit dem Thema Scham in deinen Yogastunden um und welche Möglichkeiten gibt es, die Kursteilnehmer davon zu befreien?

Was ist Scham? Scham ist, wenn wir uns selbst mit den Augen der anderen betrachten. Wenn wir uns vorstellen, was die anderen von uns halten, ob sie uns vielleicht kritisieren, dann empfinden wir Scham oder Peinlichkeit. So gesehen ist es am einfachsten, den Blickwinkel zu ändern. Das Ziel meiner Yogastunden ist es, den Teilnehmern einen Zugang zu sich selbst zu ermöglichen, auf das Atmen, auf eigene Gedanken und Empfindungen acht zu geben, ohne sie zu bewerten. Das Bewusstsein, das dadurch entsteht, löst die Knoten ganz von alleine.

Die Aufgabe eines Yogalehrers ist nicht, die körperlichen Haltungen/Asanas perfekt vorzuführen und auch, diese den Schülern beizubringen ist zweitrangig. Die Körpersprache der Teilnehmer erzählt einiges. Es geht vielmehr darum, einen Röntgenblick zu haben und in der Lage zu sein, zu unterscheiden: Ist der Teilnehmer ein blutiger Anfänger, etwas erfahrener oder ein fortgeschrittener Yogi? Anhand seiner Haltung, seiner Bewegungen und Kompromiss-Bewegungen kann man seine körperlichen und seelischen Beschwerden erkennen oder zumindest erraten. Ist Angst, Unsicherheit oder Scham wahrzunehmen?

Das und viel mehr kann ein Lehrer erkennen, ohne dass ein einziges Wort gesagt wird. Natürlich kann der Lehrer (wenn möglich) am Anfang der Yogastunde die neuen Schüler danach fragen. Ich frage immer, ob sie bereits Yoga gemacht haben, ob sie Schmerzen, Vorerkrankungen oder bestimmte Themen haben, die sie in der Stunde angesprochen haben wollen.

Zudem haben sie bei empfindlichen Themen die Möglichkeit, mir von ihrem Anliegen vor oder nach der Stunde unter vier Augen zu berichten.

Nichtsdestotrotz kommen viele unvorhersehbare Themen, z.B. Sex, Potenz, Darmschwäche usw. vor. In diesem Fällen sollte man eben offen darüber reden, als wäre es ein reiner Zufall, am besten mit Humor. Ein guter Lehrer erklärt, dass es normal ist, bei bestimmten Haltungen „den Wind frei zu setzen“, dass die meisten Frauen nach den Umkehrhaltungen Scheidenfürze ablassen und dass es anatomisch nicht anders geht und daher auch nicht peinlich sein soll.

Wie bringst du jemandem, der Vorurteile gegenüber Yoga hat näher, worum es dabei geht?

Vorurteile kommen von Unwissen. Bei richtigem und vollständigem Wissen haben Vorurteile keinen Platz. Ich schaffe meinen Schülern den sicheren, bewertungsfreien Raum, um einfach nur zu sein und zu erfahren. Der Rest geschieht ganz von alleine.

Das, was wir nie erlebt haben, das, was uns nur erzählt worden ist, ohne Raum für Neugier, begründet Vorurteile. Ein Beispiel ist das “Om”/Mantra-Singen in den Yogastunden. Alle, die die Sprache nicht verstehen, die nicht wissen, was das Mantra ist und wofür es gut sein soll, haben einen guten Grund zu glauben, dass es esoterischer Hokuspokus ist. Wenn man aber versteht, dass die Mantras auf Klangwellen basieren und man die Möglichkeit hat, die Auswirkung dieser Klangwellen mit geschlossenen Augen und/oder geschlossenen Ohren zu erfahren, braucht man keine Bedeutung damit in Verbindung zu bringen. Genau wie in der Musik und der Liebe ist diese Erfahrung bedeutender als jegliche Sprache.

Was tust du, wenn du während einer Stunde merkst, dass jemand sich unwohl fühlt?

Fragen, verstehen, helfen - das sind meine Strategien. Erst frage ich mich selbst: Was könnte es sein? Würde ich dem Teilnehmer zu nahe treten, wenn ich ihn frage? Wenn, nicht einfach danach erkundigen.

Neulich war eine Schülerin im Kurs den Tränen nah. Ich habe mich gefragt, ob ich etwas gemacht oder erwähnt habe, das sie verletzt haben könnte? Dann habe ich sie gefragt. Sie hatte schlimme Rückenschmerzen. Ab diesem Zeitpunkt habe ich ein paar rückenfreundliche Haltungen angeboten und sie etwas massiert, sodass sie dankbar und schmerzfrei aus der Stunde ging.

Manchmal sehen die Teilnehmer etwas verloren aus oder sind sichtbar enttäuscht, weil sie nicht auf einem Bein stehen können oder wie die anderen die Hände hinter dem Rücken zusammenbinden können. Da frage ich, ohne die Person direkt anzusprechen, ob das so wichtig ist. “Habt ihr schon mal einen Grabstein gesehen, auf dem stand: „Frau Soundso konnte die Hände hinter dem Rücken zusammenbinden"? Da wird der Stress mit lautem Gelächter in Luft aufgelöst und die Botschaft deutlich übertragen.

Sätze wie “Mach das, was für dich heute möglich ist” oder “Der Weg ist das Ziel” sind sehr aussagekräftig und hilfreich. Das Gefühl, dass ich heute schon weiter bin als gestern und morgen weiter sein werde als heute, ist wesentlich. Der einzige Vergleich, den ich mir erlaube, ist der mit mir selbst von gestern. Alles andere wäre ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen.

Wenn ich feststelle, dass meine Schüler sich mit bestimmten Haltungen unwohl fühlen, erkläre ich die Anatomie der Haltung etwas gründlicher. Nicht jeder kann die Kobra so machen, wie die toll aussehenden Yogis in den Yoga-Zeitschriften. Hier ist es angebracht, die Variationen für verschiedene Körper-Typen zu erklären oder mögliche Hilfsmittel anzubieten. Aber auf alle Fälle, die Teilnehmer mit einem Erfolgserlebnis zu verabschieden.

Wie reagierst du, wenn die Schüler eine bestimmte Erwartungshaltung mitbringen, der du nicht entsprechen kannst oder willst?


Meine Aufgabe besteht darin, die Teilnehmer da zu treffen, wo sie sich gerade befinden. In Deutschland kommt es öfter vor, dass die Teilnehmer beim Yoga Powerprogramm erwarten und am liebsten die Entspannung ausfallen lassen wollen. Da ist Widerstand zwecklos. Hier macht es manchmal sogar Sinn, genau das zu tun, nämlich die Teilnehmer aus der Puste zu bringen, auch wenn es nicht wirklich mein Weg ist. Nach so einer Stunde lernt man den Wert der Entspannung umso mehr zu schätzen.

Gleichzeitig ist es wichtig, authentisch zu bleiben und wie eine liebevolle Mutter dem Kind die richtigen Wege zu zeigen. Die eigene Ruhe zu bewahren und eine ausgewogene Stunde mit Rücksicht auf alle Teilnehmer zu gestalten. Die meisten Teilnehmer lernen, es mit der Zeit zu genießen. Falls sie es nicht tun, heißt das, dass die Zeit für Yoga für sie noch nicht reif ist. Wir als Lehrer pflanzen einen Samen, der mit Sicherheit seinen Weg zur Sonne findet. Ein guter Bauer weiß sich zu gedulden.

Welche sind deine Gründe dafür, Yogalehrerin zu sein?


Interessanterweise habe auch ich meine Zeit gebraucht, den Weg zum Yoga zu finden. Ich bin in eine indische Familie hineingeboren worden, mit einer weltbekannten Yogalehrerin als Mutter und sechs Geschwistern, die alle Yogalehrer sind. Ich habe lange behauptet, dass ich das schwarze Schaf der Familie sei und dass Yoga nicht mein Ding wäre. Bis ich mich in einer gescheiterten Ehe mit meinen vier Kindern weit weg von meiner Familie und meinen Freunden in einem kleinem afrikanischen Land befand. Kein Zuhause, kein Geld und keine Hoffnung. Mir blieb im wortwörtlichen Sinne die Luft weg. Auf einmal wurde mir klar, dass kein Weg am Yoga vorbeigehen kann. Tennis konnte nur ein Ventil für meinen Zorn sein, Schwimmen und Laufen halfen mir auch nur wenig.  Welche Sportarten helfen bei Enttäuschung, Hilflosigkeit und Selbstzweifeln? In den schlimmsten Stunden meines Lebens habe ich verstanden, dass ich mit Yoga die Fähigkeit habe, anderen Menschen aus ihrem Kummer heraus zu helfen und das allein konnte mich aus meinem befreien. Das war der erste Tag, an dem ich nicht nur Sport gemacht habe, sondern die erste wirkliche Begegnung mit Yoga hatte.

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