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Anjuly Rudolph
Von Krankheit als Mittel zum Zweck
Ein Reha-Aufenthalt letztes Jahr führte mir vor Augen, welche
Bedeutung Gesundheit und Krankheit als die zwei Seiten ein und derselben
Medaille für uns alle haben. Welche Einstellung wir dazu haben, bestimmt
maßgeblich unseren Genesungs-Weg.
Instrumentalisierung von Leid
Als ich mich mit der Frage auseinandersetzte, was mich und meine
Mit-Patienten in die Reha geführt hatte und mit welcher Zielsetzung und welchem
Anspruch wir angetreten waren, wurde mir bewusst, dass viele von uns – mich
eingeschlossen – ihre Krankheit nicht nur als Leid erfahren, sondern auch als
Instrument benutzen.
Ich habe mich gefragt, welche emotionalen Bedürfnisse
durch die Krankheit bedient werden und ob sie nicht manchmal einfach Mittel zum
Zweck ist. Wenn jemand eine Reha beantragt, um den Nachweis zu erbringen, dass
er nicht mehr arbeitsfähig ist und berentet oder umgeschult werden muss, ist
der Zweck der Maßnahme jedenfalls nicht die Genesung. Hier ist die Krankheit
von zentraler Bedeutung und es wäre schädlich für die eigenen Interessen, sie
zu beseitigen.
Können wir uns ein Leben ohne Krankheit überhaupt vorstellen? Oft
gehen wir davon aus, dass wir die Krankheiten unserer Eltern sowieso erben und
bringen eine entsprechende Erwartungshaltung mit. Damit ist das Leiden im
Grunde genommen vorprogrammiert – es erscheint uns als unausweichliche
Begleiterscheinung des Lebens.
Eine weitere traurige Wahrheit unserer heutigen
Leistungsgesellschaft ist, dass wir uns keine Zeit für Erholung gönnen. Für
viele Menschen ist daher eine Krankheit die einzige Möglichkeit, zur Ruhe zu
kommen und den Pflichten des Alltags zu entfliehen, ohne von einem schlechten
Gewissen erdrückt zu werden. Auch hier kommt uns die Krankheit also gelegen,
weil sie uns als die einzige Möglichkeit erscheint, uns Selbstfürsorge zu
erlauben.
Krankheit und Aufmerksamkeit
„Was wäre ich ohne mein Drama?" Fragt Byron Katie und
auch ich habe mir diese Frage gestellt. Dafür bin ich ein Stück in die
Vergangenheit gereist und habe festgestellt, dass ich, schon als ich das erste
Mal verliebt war, mein Leid als Hilfsmittel eingesetzt habe, um meinen Freund
auf mich aufmerksam zu machen und an mich zu binden. Ohne mein Leid fühlte ich
mich unwichtig, nicht ernst genommen und erhielt keine Aufmerksamkeit. Ich
hoffte, mir durch meine Krankheit seine Liebe zu verdienen und ihn an meiner
Seite zu behalten. Als er sich von mir trennte, konnte ich durch meinen Schmerz
einen Liebesbeweis erbringen.
Dieser Zusammenhang zwischen Krankheit und
Aufmerksamkeit hat sich seither wie ein roter Faden durch mein Leben gezogen
und so ist es kein Wunder, dass mein gesundheitlicher Zustand mich gezwungen
hat, mir selbst diese Aufmerksamkeit zu schenken und dem Ganzen auf den Grund
zu gehen. Unterbewusst wollte ich nie wirklich gesund werden. Denn es ist
tatsächlich deutlich schwieriger und langwieriger, gesund zu werden, als krank.
Wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind, kennen wir
das alle: Werden wir nicht alle gern getröstet, umsorgt, gepflegt und gefragt,
wie es uns geht? Freuen wir uns nicht, wenn uns jemand sein Ohr leiht, sich
unsere Krankheitsgeschichte anhört, sorgenvoll Fragen stellt und Tipps gibt?
Durch unsere Krankheiten werden wir sichtbar und interessant, erleben Mitleid,
Mitgefühl und Zuneigung. Und so ist es nicht verwunderlich, dass wir unsere
Gesundheit diesen Vorteilen opfern. Es gibt sogar so etwas wie eine Sucht nach
Traurigkeit – und wir alle kennen sie.
Lasst uns also anerkennen, dass auf dieser Ebene
Krankheit durchaus einen Sinn ergibt. Sie fordert Aufmerksamkeit ein.
Der gesunde Weg aus dem Dilemma
Was aber wäre, wenn wir diesem Ruf nach Aufmerksamkeit
auf eine gesunde Weise folgen würden? Wäre es nicht besser, wir würden – statt
Krankheit in Kauf zu nehmen – einen Weg finden, der uns auf dem Weg der
Genesung wirklich voran bringt?
Dazu ist es notwendig, dass wir uns dieses
Teufelskreises bewusst werden, denn nur so können wir ihn durchbrechen.
Wie können wir Gesundheit erwarten, wenn wir doch unbewusst gar
nicht gewillt sind, die Krankheit loszulassen?
Wir können unsere Gedanken beobachten und schauen, wie
unser Körper darauf reagiert. Was wir denken und glauben, wird zu einer
selbsterfüllenden Prophezeiung.
Und wir können beginnen, genauer hinzuschauen und
darauf zu achten, was wir wirklich brauchen. Ist es die Aufmerksamkeit anderer
oder ist es unsere eigene Aufmerksamkeit uns selbst gegenüber? Wenn wir
wirklich achtsam und aufmerksam sind, hören wir auch die Signale unseres
Körpers und verstehen, wie sie entstanden sind und was sie uns sagen wollen.
Das Mitleid der anderen bedient nur unser Ego. Und das
steht uns in unserem ehrlichen Umgang mit uns selbst immer im Weg. Das zu
erkennen ist schon der erste und wichtigste Schritt raus aus dem Leiden. Wenn
wir mutig genug sind, uns unseren Dämonen zu stellen und die unbequeme Wahrheit
anzuerkennen, können wir unseren Weg in die heilsame Genesung antreten.